1

Einmal sprach ich bei einer Veranstaltung zwei oder drei Minuten lang mit einer Frau. Dabei machte sie (leicht betrunken) eine kleine, fast erotische Bewegung zu mir hin. Eine schöne Geste, die nichts bedeutete, nichts verlangte und nichts versprach. Diese Bewegung habe ich mir gemerkt, nicht den Namen der Frau, den ich kaum verstanden hatte. Ab und zu fiel sie mir wieder ein: eine Bewegung, fast nur ein Blick, ein Moment von Leichtigkeit, ohne jede Berührung. Sie fiel mir ein mit einer Sehnsucht, der keinerlei Impuls zur Realisierung innewohnte. Einer Sehnsucht, die keine Realität braucht: nur irgendwo die Existenz eines anderen Menschen, ich muss diesen Menschen nicht in mein Leben ziehen, nicht aus dem eigenen Leben herausholen. Ein paar Jahre später las ich zufällig eine Todesmeldung, mit Foto, ich dachte sofort: Das ist diese Frau. Diese Frau, die viel jünger war als ich und von der ich keinen Moment gedacht hätte, sie könnte gestorben sein oder würde bald sterben. Die Umstände machten es plausibel, dass ich mich nicht irrte; ich hatte ihr Gesicht nicht so in Erinnerung behalten, dass ich es in irgendeiner Weise beschreiben konnte, aber der unbestimmte Eindruck eines Gesichts ist stärker als jede hilflose Beschreibung, und die Umstände kamen dazu (ich erkläre auch die Umstände nicht, sie gehen euch nichts an, und ich habe kein Recht, so über diese Frau zu sprechen, dass sie irgendjemand identifizieren könnte).

Die Frau steht da, mit Freunden, ein Glas oder eine Bierflasche in der Hand, und ich bin schon am Gehen, zwei oder drei Minuten sprechen wir miteinander, freundlich, ohne besonderen Inhalt, ich gehe und nehme ihre Geste mit. Licht, ein zerstörter Stern.

Oder: Ich gehe, bin froh, draußen zu sein, allein, in der Nacht, und die Geste bleibt in der Luft stehen. Wir erwarten, sie dort irgendwann, wenn wir sie benötigen, wiederzufinden.

Die Distanz war immer schon da. Jeder Blick richtet sich in die Vergangenheit, jeder Lichtstrahl in die Zukunft. Ein winziges Quantum Zeit trennt den einen vom anderen, ein Lichtstrahl verbindet uns. Oder ein diffuses Lichtfeld, in dem wir schwimmen und die Hände nacheinander ausstrecken.

Die Physiker zeichnen ins Diagramm eines Raum-Zeit-Koordinatensystems Lichtkegel, die von jedem Punkt im Raum, jedem Wesen ausgehen und das definieren, was man Zeit nennt. Von einem beliebigen Moment der Gegenwart aus ziehen wir etwas wie Kometenschweife in die Vergangenheit und Zukunft. Berühren an diesem oder jenen Punkt andere Kegel, die andere Wesen bewohnen. (Ein Zittern, Blitze.) So entsteht ein Bild der Welt. Unterschiedliche Vergangenheits- und Zukunftshorizonte, unterschiedliche Weltlinien. Eine Karte, die umso mehr Schichtungen enthält, je mehr Berührungspunkte man (wer?) einzeichnet, und sich in immer neue Dimensionen faltet. Als würde ein anderer, in der Zeit ausgestreckter Körper den unseren ersetzten. Proust schreibt, im letzten Satz der Recherche, die Menschen würden, im Gegensatz zum beschränkten Anteil am Raum, der für sie ausgespart ist, einen unermeßlich ausgedehnten Platz – da sie ja gleichzeitig, wie Riesen, die, in die Tiefe der Jahre getaucht, ganz weit auseinanderliegende Epochen streifen, zwischen die unendlich viele Tage geschoben sind – einnehmen in der ZEIT.

Diese Seite, unter die Proust (als gäbe es ein Ende) ein paar Monate vor seinem Tod glücklich das Wort ENDE schrieb, Fin (wie das letzte Wort Zeit, Temps, mit Majuskel), ist voller Einschübe und Durchstreichungen.

Der Austausch mit der Welt, Scheiße, Tinte, Sperma, Verwesung, Daten, Bilder, Blut, Scheiße, Wörter, Verwesung. Ich trinke Wasser, Wörter, Küsse, Wein und Bier. Ich esse Pflanzen, Tiere, Brot und Bilder, esse und trinke Gesten, verwandle sie, lösche sie aus, lösche mich darin aus, gebe sie wieder, tauche in die Tiefe der Jahre, ins Dazwischen und in die seltsame, versteckte, zwischen die Grenzen zweier Zeitpunkte geschobene Unendlichkeit. Kleine Blitze.

Ich werde nie mit Sicherheit wissen, ob die Frau von der Todesmeldung dieselbe Frau war, mit der ich zwei oder drei Minuten – vielleicht auch nur zwei oder drei Sätze – gesprochen habe. Den Namen habe ich schon wieder vergessen, auch die Gesichtszüge, nur ein ganz bestimmtes, unverwechselbares oder nur beinahe unverwechselbares Leuchten in ihrem Blick nicht. Aus fünfundzwanzigtausend Lichtjahren kommt ein Signal auf der Erde an, wir schwimmen durch die Zeit, ein Rauschen in den Ohren, es ist keine größere Nähe möglich. Das Rauschen hat einen Rhythmus; mit leichten, beunruhigenden Verzögerungen. Kleine Peitschenschläge. Wäre ich ein Schriftsteller, so müsste ich diese Geste, diesen Moment aufnehmen und ein Netz von Beziehungen um die Frau knüpfen, ihr einen neuen Beruf geben, die Freunde, die sie umstehen, durch andere, neu erfundene ersetzen, sie in eine Welt verpflanzen, von der sie keine Ahnung hat. (Sie öffnet blinzelnd die Augen, wo kommt dieses Licht her?) Diese Biographie, diese Freunde, ein paar Vorlieben, ein täuschender Beruf, Träume, die zerschlagen werden, das tapfere Sich-Abfinden mit dem frühen Krebstod, einen Anschein von Wirklichkeit. Das verdrießt mich. Dieser Anschein, diese Wirklichkeit auf mittlerer, gedämpfter Ebene, dieses falsche zweite Leben interessieren mich nicht (ich ziehe, wie im Schlaf, das Netz in Bereiche, von denen ich keine Ahnung habe und wir alle keine Ahnung haben, und öffne blinzelnd die Augen, vor dieser unbekannten leeren Landschaft).

Ich kann nur auf den Rhythmus vertrauen, das Rauschen. Das Blinzeln. Und darauf, dass aus Erinnerung („einmal sprach ich bei einer Veranstaltung…“) etwas anderes wird als Erinnerung.

2

Eines der dümmsten und faszinierendsten Bücher, die ich je gelesen habe, ist die Physik der Unsterblichkeit von Frank J. Tipler. Darin versucht der Physiker Tipler mit einer Mischung aus naiver Technikgläubigkeit und naiver Religiosität den Weg zu zeichnen, wie wir nicht allein unseren eigenen Tod, sondern auch das Ende des Universums überleben. Was ganz einfach geht, indem man Simulationen aller denkbaren Menschen (also auch von mir und der Frau, mit der ich zwei oder drei Minuten bei einer Veranstaltung gesprochen habe) an den Punkt des Stillstands am Ende des Universums schickt. Das ist mithilfe einer interstellaren Sonde mit einer Geschwindigkeit von null komma neun C und hundert Gramm Nutzlast möglich, für deren Laserantrieb man eine Fresnelsche Linse von einer Milliarde Kilometer Durchmesser benötigt. Etc. etc.

Tipler schreibt: Da ein Durchschnittsmensch eine Masse von weniger als hundert Kilogramm hat und weniger als zwei Meter groß ist – und demnach in eine Kugel mit einem Radius von einem Meter passt – muss ein menschliches Wesen durch drei mal zehn hoch fünfundvierzig Bits oder weniger codierbar sein. Folglich gibt es höchstens zehn hoch drei mal zehn hoch fünfundvierzig mögliche Quantenzustände, in denen ein Mensch sich befinden kann.

Man weiß, dass der längst verstorbene Mensch sich in einem von einer endlichen Zahl von Quantenzuständen befinden muss. Um sicherzugehen, dass er wiedererweckt wird (sagen wir, er befand sich zum Zeitpunkt seines Todes im Phasenzustand Psi Tausendfünfhundertsieben), muss man zehn hoch zehn hoch siebzig Apparate bauen, um alle zehn hoch zehn hoch siebzig möglichen Menschen  wiederzuerwecken.

Die wiedererweckten Menschen (wenn man sie denn Menschen nennen will) sind perfektioniert, aber man weiß nicht recht, wozu. Sie sind ohne Erfahrungen, Erkenntnisse, Neugier oder Angst (oder so vollgestopft mit Erfahrungen und Erkenntnissen, dass keinerlei Raum für Neugier oder Angst bleibt). Zwischen ihren Erinnerungen gibt es keine Leerräume, keinen Hintergrund für ihr Glück. Es gibt keine Grenze, kein Außen. Alle Weltlinien haben denselben Vergangenheitshorizont. Es gibt Sex, aber keinen Raum für ein Begehren. Jeder Mann, so der Physiker Tipler, wird sich nicht nur mit der schönsten Frau der Welt paaren, nicht nur mit der schönsten Frau, die je gelebt hat, sondern sogar mit der schönsten Frau, deren Existenz logisch möglich ist. Nach dem Fechner-Weber-Gesetz, so Tipler, ist jede Reaktion proportional zum Logarithmus des Reizes; deshalb kann man die psychologische Wirkung der schönsten Frau der Welt auf einen Mann ausrechnen: Wenn ein Mann der schönsten Frau der Welt begegnet, ist die psychologische Wirkung annähernd neunmal gleich der Wirkung, die eine Begegnung mit irgendeiner Frau der oberen zehn Prozent auf ihn ausübt; die Begegnung mit der schönsten logisch möglichen Frau hat (wenn es ungefähr zehn hoch zehn hoch sechs mögliche unterschiedliche Frauen gibt) eine noch mal um das hunderttausendfache gesteigerte Wirkung.

Ein Katalog von Dingen, die man zurückholen muss. Jeder Moment des eigenen Lebens wird zum bloßen Katalogeintrag werden, gleichgültig wie die aneinandergereihten Ergebnisse einer Internetsuche. Nichts fehlt. Jeder andere ist ein in Pixel zerlegtes manipuliertes Bild. Irgendeine Frau der oberen zehn Prozent. Eine logisch mögliche Frau. Wenn ich in den Spiegel schaue, dann ist da ein Haufen manipulierter Information. Etwas, das mich darstellt. Man könnte es perfektionieren, aber ich weiß nicht recht, wozu. Ich kann Bilder von mir ergoogeln und glaube nicht mehr recht, dass ich existiere. Ich könnte Bilder dieser toten Frau ergoogeln, wenn ich mir ihren Namen gemerkt hätte oder recherchieren würde. Das würde ein Schriftsteller tun, es erscheint mir ekelhaft. Sie ist eine logisch mögliche Frau, lebendig oder tot oder beides. (Ekelhaft, das über ihr Grab hinweg zu behaupten.)

Ich schaue auf die elektronische Version meines Lebens, die auf dem Computer gespeichert ist; Behörden und Firmen kennen andere Versionen dieses Wesens, ein Schweif von Daten (oder von Licht?), der unabhängig von meinem Bewusstsein existiert und durch die Welt treibt.

Das ist wirklicher als ich. Das ist mehr ich als ich es bin – Aber niemand wohnt darin; auch nicht in dem, was Literatur heißen will. Ein Nebel, ein Kometenschweif, der sich in der Zeit verliert.

Das Leben der Toten.

In Wahrheit geht es natürlich ganz anders.

3

Die Zukunft wird auch nur Gegenwart sein. Das Gefühl „Zukunft“ dagegen ist ein Moment des Kippens, wenn die Gegenwart unvertraut wird, man nicht mehr glaubt, was einen umgibt. Plötzlich weigert sich die Welt, die Gestalt anzunehmen, die man für die ihre hielt. Das ist jetzt aber nicht wahr.

Ich stelle mir vor, dieser Moment wäre eine Geste.

Ich verliebe mich.

Ich greife ins Nichts.

Ich greife ins Nichts, aber von dorther werde ich angesehen. Ich werde von der anderen Seite berührt. Eine Welle geht durch mich hindurch, und ich bin nicht mehr dort, wo ich bin.

4

Gravitationswellen verschieben und verdrehen die Zeitkegel. Die Richtungen „Zukunft“ und „Vergangenheit“ kommen durcheinander. Eine Schwerkraft, etwas, das uns ansieht und anzieht. Oder schlicht anzieht, denn sind das Augen?

Ich mache, leicht betrunken, eine kleine Bewegung zu euch hin, tut mir leid, dass niemand sie als erotisch empfinden wird. Aber ich brauche euch. So weit weg, wie ihr seid, aber ich wäre gar nicht da ohne euch. Ich brauche diese Verschiebung, diese Verdrehung.

Die Menschen in unserem wirklichen Leben genügen uns nicht. Man braucht jemand Unbekannten aus einer anderen Zeit, Sekunden oder Jahrhunderte entfernt, der einen liest oder schreibt oder durchs Fernrohr anstarrt. Sonst wäre man nicht da.

Jemand, zum Beispiel aus der Zukunft, muss kommen und ein kleines Feld von Möglichkeiten (niemals realisierten Möglichkeiten) vor uns öffnen. Gibt es in der Zukunft niemanden mehr, weil wir beiläufig die Welt zerstört haben, so sucht man sich jemanden aus der Vergangenheit.

Da wir ja gleichzeitig

Wie Riesen

In die Tiefe der Jahre getaucht

Ganz weit auseinanderliegende Epochen streifen

Zwischen die unendlich viele Tage geschoben sind –

Der lange Einschub (der erst nach dem Wort ENDE in Prousts Text gefunden hat) enthält die Wörter zwischen und unendlich, an ihnen muss man sich festhalten.

Wäre ich ein Schriftsteller, könnte ich das Allgemeine, die Physik, die Zeit, das Nichts, die großen Wörter vergessen und im Dazwischen einen Raum zeichnen. Ich könnte all das vergessen oder bewusst aussparen und ins Dunkel des Hintergrunds verbannen. Ein ungewisses Licht scheint in dem Raum (Lampe, bist du noch da?). Vielleicht wäre das doch besser.

Man muss nur verhindern, dass gar kein Licht mehr da ist: reine Gegenwart, nichts.

Aber eine Welle geht durch mich hindurch, und das ganz Nahe und das unendlich weit Entfernte stehen nebeneinander. Die Kegel drehen sich, wir schwimmen, befremdliche Figuren, in einem Feld von Licht und Schatten. Jemanden an einer ganz anderen Stelle dieses Feldes berühren, streifen, beinah berühren, jemanden anschauen, dann faltet sich die Welt oder wenigstens das Bild der Welt. Es gibt neue Räume. Darum ginge es. Um das Wunder, nicht da zu sein und –

5

Sie sitzt am Meer (das Zeit ist). An einem Kiesstrand, hinter ihr windschiefe Kiefern. Es gibt Gräser, Algen. Ich weiß nicht, seit wann sie da sitzt und aufs Meer schaut, oder das Meer (so scheint es eher) schaut zu ihr hin, schaut sie diskret an. Das Meer mit seinen Gesten, von denen keine der anderen gleicht. Gesten, die nichts bedeuten, nichts verlangen und nichts versprechen. Es holt aus der Vergangenheit einen Schwall von Zeit (flüssige, schäumende, durchsichtige, endlos scheinende Zeit), die sich in der Zukunft, in einem Wirbel in sich hineindreht und wieder zurückströmt. Ein Zwischenraum bleibt offen. Da sitzt diese Frau und schaut auf diese Drehung, diese Geste, hört den Klängen zu, die es begleiten, man nennt es Rauschen, aber es ist viel mehr, ein Rhythmus mit leichten Verschiebungen, ein Zurückdrehen in der Zeit, ab und zu Explosionen und dann Stille, Zwischenräume, sie hört all das und begreift es beinahe, nun gut, und sie ist tot.

Dieses Meer, das uns nicht braucht, nach uns da sein wird, das seine eigene Sprache und Musik hat und unsere Sprache und Musik nicht braucht. Keine Verdopplung. Weil seine eigene Sprache Austausch ist, Zeit, und nicht Bestätigung und Bedeutung.

Sie sitzt an einem Kiesstrand und lässt langsam den Kopf nach hinten sinken, die Äste der Kiefern zittern im Wind. Jeder hat ein Bewusstsein, identifiziert sich mit seinem Bewusstsein und durch sein Bewusstsein, aber was das Bewusstsein ist, weiß niemand. Das Allernächste entzieht sich.



Thomas Stangl
DE
: geboren 1966, studierte Philosophie und Spanisch und lebt als freier Schriftsteller in Wien. Mehrere Romane, Erzähl- und Essaybände, zuletzt 2019 Die Geschichte des Körpers. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. 2004, für den Roman Der einzige Ort, der aspekte-Preis für das beste deutschsprachige Prosadebut, 2011 Erich-Fried-Preis, 2019 Wortmeldungen-Preis, 2020 Johann-Friedrich-von-Cotta-Preis der Stadt Stuttgart.

PL: ur. 1966 r. studiował filozofię i hispanistykę, mieszka i pracuje w Wiedniu jako niezależny autor. Liczne powieści, tomy opowiadań i esejów, w 2019 r. Die Geschichte des Körpers. Wielokrotnie nagradzany, m.in. w 2004 r. za powieść Der einzige Ort (nagroda aspekte-Preis), w 2011 r. nagroda im. Ericha Frieda, w 2019 r. Wortmeldungen-Preis, w 2020 r. Johann-Friedich-von-Cotta-Preis miasta Stuttgartu.

Karolina Lubaszko (ur. 1994) – ilustrator i grafik, Warszawa. Ukończona Akademia Sztuk Pięknych w Warszawie z wyróżnieniem rektorskim w specjalizacjach: Projektowanie plakatu i grafika wydawnicza oraz Grafika warsztatowa. Plakaty, ilustracje oraz grafiki wydawnicze głównie przy użyciu techniki sitodruku. Szkicowniki w każdym wolnym momencie. Prace są docenieniem prostych sytuacji i zwykłych, codziennych obiektów. Publikuje w dwóch miejscach: BEHANCE INSTAGRAM